11. June 2025
Nachbericht Convention Sensomotorik 2025
Von der Nische zur Schlüsselrolle – Sensomotorik gestaltet Versorgung neu
Die Convention Sensomotorik 2025 machte deutlich: Sensomotorik ist kein Spezialgebiet mehr – sie wird zum integralen Bestandteil moderner Versorgung. Über 100 Fachbesucher:innen aus dem Orthopädiehandwerk erlebten ein Programm, das Praxisnähe, Evidenz und strategische Weitsicht vereinte.
Inhaltsverzeichnis
Auftakt mit Haltung: Zahlen und Perspektiven

Frank Hepper, CEO der Springer Aktiv AG, eröffnete mit klaren Worten: Sensomotorik ist strategisch relevant – für Versorgungserfolg, Systemeffizienz und Patientenwohl. Die Zahlen sprechen für sich: Steigende Versorgungszahlen und ein wachsender Anteil an dokumentierten Mehrkosten belegen die wachsende Nachfrage nach hochwertiger, individueller Versorgung. Springer positioniert sich dabei nicht nur als Anbieter, sondern als Partner im System – etwa durch die Softwarelösung Easycad oder das neue Versorgungskonzept „proprio Reha“.
Keynote von Vreni Frost: „Kopf aus – Körper an“
Die bekannte Gesundheitsaktivistin Vreni Frost brachte mit persönlicher Wucht das Thema auf den Punkt: Sensomotorik ist unser inneres Navigationssystem. In einer Welt, die vom Kopf dominiert wird, ermöglicht sie eine Rückverbindung zum Körper – mit spürbarem Effekt auf Stabilität, Wohlbefinden und emotionale Balance. Ihre Übungen und Impulse waren alltagsnah, ihre Botschaft klar: Wer den Körper wieder bewusst wahrnimmt, gewinnt an Lebensqualität.

Die große Podiumsdiskussion – Anspruch, Evidenz und Umsetzung im Dialog

Im Zentrum der Convention Sensomotorik 2025 stand eine intensive Diskussionsrunde mit führenden Vertreter:innen aus Orthopädiehandwerk, Wissenschaft, Industrie, Medizin und Recht. Die Teilnehmenden machten deutlich: Die sensomotorische Einlagenversorgung steht an der Schwelle zur Regelversorgung – aber es braucht gemeinsame Strukturen, klare Sprache und politische Sichtbarkeit.
Essentials der Diskussionsrunde
Dr. Uta Janenz, Fachärztin für Orthopädie, Schwerpunkt Kinderorthopädie
Kernaussage:
„Jedes Kind mit sensorischen Problemen hat automatisch auch motorische Schwierigkeiten. Passive Einlagen ignorieren das.“
Janenz kritisierte den fortgesetzten Einsatz passiver Einlagen und forderte ein Umdenken: Sensomotorische Einlagen seien das einzige Versorgungskonzept, das kindliche Systeme ganzheitlich unterstützt. Sie rief zu mehr ärztlicher Bewegung auf – weg von rein strukturellen Eingriffen, hin zu funktionellen Lösungen in enger Abstimmung mit dem Handwerk.
Wunsch für die Zukunft:
„Mehr kollegiale Offenheit, mehr ärztliche Bewegung – und eine Versorgung, die nicht nach Schema F funktioniert, sondern nach den Bedürfnissen der Kinder.“
Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbands für Orthopädietechnik (BIV-OT)
Kernaussage:
„Sensomotorische Einlagen sind in der Orthopädietechnik tägliche Realität – in der Orthopädieschuhtechnik jedoch vielerorts noch ein Sonderfall.“
Reuter betonte, dass dies kein Versorgungsproblem, sondern eine strukturelle Herausforderung sei. Während die OT mit Kompetenzzentren wie der Bundesfachschule über klar verankerte Qualitätssicherung verfüge, fehle der OST ein vergleichbares Flaggschiff. Die Wahl einer Schule als Kompetenzzentrum sei entscheidend für die Entwicklung des gesamten Berufsbildes.
Wunsch für die Zukunft:
„Absolute Einigkeit – innerhalb der Branche und im Dialog mit Systempartnern. Die Versorgung verdient Anerkennung. Dafür brauchen wir klare Strukturen, starke Schulen und eine laute gemeinsame Stimme.“
Oda Hagemeier, Geschäftsführerin eurocom e. V.
Kernaussage:
„Die Industrie steht nicht im Wettbewerb mit dem Handwerk – sie ist sein strategischer Partner, wenn es um Innovation und Versorgungssicherheit geht.“
Hagemeier hob hervor, dass die Industrie eine zentrale Rolle für die flächendeckende Etablierung neuer Versorgungskonzepte wie der sensomotorischen Fußorthese (SMFO) spielt. Ein zentrales Thema war die Rolle des Arbeitskreises Sensomotorik (AK), der seit 2019 unter dem Dach der eurocom agiert. Hagemeier machte deutlich, dass dieser AK aufgrund der kritischen Haltung der gesetzlichen Krankenkassen zur sensomotorischen Einlagenversorgung auf Initiative der Industrie entstanden ist und lösungsgetrieben arbeitet – mit klarem Fokus auf Versorgungssicherheit, Systemintegration und politische Anschlussfähigkeit.
Wunsch für die Zukunft:
„Weniger Hürden – mehr Transparenz und damit Planbarkeit. Wenn Innovation wirkt, dann muss sie auch ankommen – flächendeckend, systematisch und regelhaft.“
Thomas Ehrle, Referat Bildung und Wirtschaft, Spitzenverband Orthopädieschuhtechnik (SpiOST)
Kernaussage:
„Die heutigen Versorgungsrealitäten sind komplexer, dynamischer und funktioneller als das, was in vielen Ausbildungscurricula aktuell abgebildet wird.“
Ehrle unterstrich, dass sensomotorische Versorgung nicht auf Einzelfallkompetenz beruhen darf. Stattdessen brauche es systematisch verankerte Qualifikationsstrukturen – sowohl in der Aus- als auch in der Fortbildung. Die Orthopädieschuhtechnik müsse sich strategisch neu aufstellen, mit klaren Kompetenzzentren und abgestimmten Standards, um fachlich wie politisch gleichberechtigt agieren zu können.
Wunsch für die Zukunft:
„Lauter werden – aber vor allem schneller.“
Dr. Stefan Becker, Sportwissenschaftler und Dozent RPTU Kaiserslautern-Landau
Kernaussage:
„Der Wunsch nach Evidenz ist nachvollziehbar – aber die bereits bestehende Evidenz sollte nicht ignoriert werden.“
Becker betonte, dass die Studienlage zur SMFO belastbar sei – Die wissenschaftliche Studienlage sei inzwischen umfangreich und stetig wachsend, insbesondere für häufige Indikationen wie Knick-Senkfuß, Überpronation oder funktionelle Kniebeschwerden. Die Forderung nach randomisierten Studien mit einer standardisierten Versorgung dürfe nicht als Pauschalkritik missbraucht werden, sondern müsse sich an der Versorgungsrealität orientieren – und die ist individualisiert, funktionell, alltagsnah.
Wunsch für die Zukunft:
„Zeitnahes Ende auf das Warten.“ Mit diesem knappen Statement bringt Dr. Becker die Sicht der Branche auf den Punkt. Vorhandene Evidenz, gelebte Praxis und dokumentierte sowie systematische Erfolge in der Versorgungspraxis bestärken ein Ende der Dauerschleife des Beweiszwangs.
Stefan Woltring, Orthopädieschuhmachermeister und Experte für Sensomotorik
Kernaussage:
„Die Frage ist nicht, wie präzise die Fräse arbeitet – sondern ob der Patient wieder in die Lage gebracht wird, seinen Alltag zu leben.“
Woltring sprach sich leidenschaftlich für eine Versorgung aus, die mehr als Technik bietet: Sensomotorische Einlagen müssten funktionelle Veränderungen auslösen, im Muskeltonus, in der Haltung, im Gangbild – und im Lebensgefühl. Um das sichtbar und nachvollziehbar zu machen, seien standardisierte Dokumentationsprotokolle und verständliche Bilder essenziell.
Wunsch für die Zukunft:
„Sensomotorik aus der Einzelfall-Ecke holen – und als selbstverständlichen Bestandteil einer modernen Versorgung etablieren.“
Roland Weber, Rechtsanwalt
Kernaussage:
Kernaussage:
„Es gibt anerkannte sensomotorische Heilverfahren – und darauf fußt die sensomotorische Fußorthese. Das ist die rechtliche Grundlage für ihre Anerkennung.“
Weber erklärte, dass Patient:innen bei medizinischer Indikation ein rechtlich gesicherter Anspruch auf höherwertige Versorgung zusteht – auch bei Mehrkosten. Entscheidend seien saubere Dokumentation, korrekte Formulierungen und ein klarer Hinweis auf „sensomotorische Fertigung“ im Kostenvoranschlag oder Rezept.
Wunsch für die Zukunft:
„Die Politik sensibilisieren, wo liegt der echte Mehrwert der Hilfsmittel – also der sensomotorischen Einlage. Dann enden die Diskussionen und der Streit. Weniger Bürokratie."
Workshops – Wissen, Wirkung, Weiterentwicklung
Die drei Workshops der Convention Sensomotorik 2025 machten sichtbar, was sensomotorische Versorgung heute leisten kann – und welche Werkzeuge Fachbetriebe benötigen, um Qualität messbar, Wissenschaft greifbar und Versorgung wirtschaftlich erfolgreich umzusetzen.
Workshop 1 – Qualität sichtbar machen
Leitung: Stefan Woltring (motioncheck Osnabrück), Heiko Schreiter (Springer Aktiv AG)

Eine hochwertige Versorgung beginnt mit einer klaren Analyse und endet mit einer lückenlosen Dokumentation. Anhand zweier eindrucksvoller Patientenvideos – ein Kind mit Spitzfußstellung und ein verletzter Fußballspieler – zeigte Stefan Woltring, wie sich funktionelle Verbesserungen nach SMFO-Versorgung objektiv belegen lassen.
Die vorgestellten Ganganalysen vor und nach Einlagenversorgung wurden fachlich fundiert eingeordnet und bildlich nachvollziehbar gemacht. Besonders deutlich: Bereits nach vier Wochen waren sichtbare motorische Anpassungen zu erkennen – bei Kindern ebenso wie bei Sportlern.
Im offenen Austausch diskutierten die Teilnehmenden zentrale Fragen zur Nachsorge:
- Wie oft kontrollieren?
- Wann „entlassen“?
Konsens: Auch eine bewusste Entlassung kann Vertrauen schaffen – und neue Patient:innen binden, wenn sie professionell kommuniziert wird.
Workshop 2 – Wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis
Leitung: Dr. Stefan Becker, Steven Simon (RPTU Kaiserslautern-Landau), Boris Hermsen (Springer Aktiv AG)

Workshop 2 rückte den aktuellen Stand der Forschung zur sensomotorischen Fußorthese (SMFO) ins Zentrum. Die Vortragenden zeigten, dass sich seit 2013 die Zahl wissenschaftlicher Publikationen deutlich erhöht hat – ein Ausdruck wachsender Bedeutung funktioneller Versorgungskonzepte in der Orthopädietechnik.
Zahlreiche Studien bestätigen zentrale Therapieerfolge wie Schmerzreduktion, erhöhtes Komfortempfinden und verbesserte Stabilität. Auch Effekte auf Muskelaktivierung – insbesondere der Mm. peroneus longus und brevis – sowie auf Rückfußstellung, Gangbild und Druckverteilung wurden nachgewiesen.
Die subjektive Wirksamkeit wird durch aktuelle Studien untermauert. Eine große Multicenter-Studie (Becker et al., 2023) lieferte sehr positive Ergebnisse und wird derzeit mit validiertem Fragebogen und Kontrollgruppe weitergeführt.
Vergleichsstudien zwischen SMFO und biomechanischen Einlagen zeigen funktionelle Unterschiede und vergleichbare Wirksamkeit – abhängig von der Indikation. Weitere geplante Studien untersuchen z. B. die Haltungsoptimierung bei Zehenspitzengang, Muskelaktivität unter Belastung und SMFO bei Achillodynie.
Ziel ist es, diese Evidenz künftig stärker in Versorgungspfade und digitale Systeme wie Easycad zu integrieren – für eine wissenschaftlich gestützte, klinisch relevante Versorgung.
Workshop 3 – proprio Reha: Sensomotorik systematisch in der Reha verankern
Leitung: Dr. Oliver Ludwig (RPTU Kaiserslautern-Landau), Jeannette Arend (Springer Aktiv GmbH), Pascal Adolf (Springer Aktiv AG)

proprio Reha steht für einen Paradigmenwechsel in der Rehapraxis: Statt Rehapatient:innen nur mit einer Bandage zu versorgen, wird ihnen eine konkrete Perspektive und langfristige sensomotorische Begleitung angeboten – vom funktionellen Ist-Zustand bis zur gezielten Rückkehr in Alltag oder Sport. Dr. Oliver Ludwig präsentierte dazu validierte Testverfahren aus dem Profisport, wie den Y-Balance- oder Heel-Rise-Test, die nun alltagstauglich für die Reha eingesetzt werden.
Diese Tests liefern konkrete Informationen zu posturaler Kontrolle, Kraft und Beweglichkeit – und ermöglichen die gezielte Einschätzung, wann Rehapatient:innen bereit für den nächsten Belastungsschritt sind. Alle Ergebnisse werden direkt im Easycad-System dokumentiert und bilden die Grundlage für die individuell passende sensomotorische Versorgung.
Jeannette Arend zeigte, wie proprio Reha aus dem bestehenden System „fisch im Schuh“ hervorgegangen ist.Während „fisch“ bislang stark im Sportbereich verortet war, ergab eine interne Analyse: Rund 60-70 % der Träger:innen sind oder waren Rehapatient:innen – mit Beschwerden an Knie oder Sprunggelenk, meist infolge von Verletzungen. proprio Reha reagiert auf diese Versorgungspraxis und überführt das bewährte sensomotorische System in eine digital dokumentierte, funktionell orientierte Rehastruktur – anschlussfähig an moderne Versorgungspfade im Orthopädiegeschäft.
Abschlussvortrag – Sichtbarkeit ist Wirkung
Marius Hirschmann, Kommunikationsstratege, Geschäftsführer Zentralsüden

Zum Abschluss der Convention gab Marius Hirschmann einen strategischen Impuls: Sensomotorik wirkt – aber sie wird zu wenig gesehen. In seinem Vortrag stellte er die Frage, warum gute Versorgung nicht automatisch Aufmerksamkeit erzeugt, und rief die Branche dazu auf, ihre Wirkung sichtbar zu machen – fachlich, emotional und mediengerecht.
Seine zentrale These: Sanitätshäuser leisten viel, kommunizieren aber oft zu wenig über ihre Lösungen. Sichtbarkeit sei kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung, um als kompetenter Partner im Gesundheitswesen wahrgenommen zu werden – gerade gegenüber Ärzt:innen, Patient:innen, Kostenträgern und Politik.
Hirschmann plädierte dafür, das Handwerk nicht als Rückstand, sondern als Zukunftsfeld zu positionieren – mit strategischer Kommunikation, starken Inhalten und einer modernen Markenhaltung. Die Marke „proprio“ sei ein Beispiel dafür: fachlich fundiert, anschlussfähig an Medizin und Versorgung – und gleichzeitig klar, mutig und nahbar in der Sprache.
Schlussappell:
„Nicht länger warten. Sondern anfangen. Wer zeigt, was er kann, wird als Partner für moderne Versorgung gesehen – von Ärzt:innen, Patient:innen und Systemakteuren gleichermaßen.“
Tagesausklang und Netzwerken
Beim abschließenden Get-together nutzten viele Teilnehmende die Gelegenheit, um Gespräche zu vertiefen, neue Kontakte zu knüpfen und gemeinsame Perspektiven auszuloten. In entspannter Atmosphäre wurde das Gehörte reflektiert – mit einem offenen Ohr für neue Ideen und einem klaren Blick auf das, was kommt.
Der Erfahrungsaustausch zeigte: Die Herausforderungen sind bekannt – aber die Lösungsansätze sind da. Was bleibt, ist ein starkes Gemeinschaftsgefühl, neue Impulse für die tägliche Arbeit – und die Gewissheit, dass Sensomotorik verbindet: Fachlich, menschlich, systemisch.